Den Stau links liegen lassen und rechterhand zügig in den Feierabend fahren. Wer möchte das nicht? Wenn da nur nicht Art. 35 Abs. 1 SVG wäre, der festhält:
«Es ist rechts zu kreuzen, links zu überholen.»
Doch gilt dies ausnahmslos? Was ist, wenn sich der Verkehr auf der linken Seite staut? Darf ich dann nach rechts auf die freie Fahrbahn ausweichen und überholen? Oder muss ich als Fahrer auf der Normalspur etwa verlangsamen oder gar abbremsen, um nicht rechterhand an den Fahrzeugen vorbeizufahren? Die Antworten darauf sind einigermassen kompliziert und das Bundesgericht trägt angesichts seines neuen Urteils, BGer 6B_231/2022 vom 1. Juni 2022, nicht gerade zur Klärung bei. Der vorliegende Beitrag versucht, etwas Licht ins Dunkel zu bringen.
Rechtliche Grundlagen
Nach Art. 35 Abs. 1 SVG ist links zu überholen, woraus ein Verbot des Rechtsüberholens folgt. Ein Überholen liegt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung vor, wenn:
- ein schnelleres Fahrzeug ein in gleicher Richtung langsamer vorausfahrendes einholt,
- an ihm vorbeifährt und
- vor ihm die Fahrt fortsetzt.
Weder das Ausschwenken noch das Wiedereinbiegen bilden eine notwendige Voraussetzung des Überholens.
Eine Ausnahme vom Verbot des Rechtsüberholens besteht beim Fahren in parallelen Kolonnen (Art. 8 Abs. 3 VRV allgemein und Art. 36 Abs. 5 Bst. a VRV speziell für Autobahnen). Ob Kolonnenverkehr vorliegt, ist anhand der konkreten Verkehrssituation zu bestimmen und zu bejahen, wenn es auf der Überholspur zu einer derartigen Verkehrsverdichtung kommt, dass die auf der Überhol- und der Normalspur gefahrenen Geschwindigkeiten annähernd gleich sind. In einem solchen Fall ist es erlaubt, rechts an anderen Fahrzeugen vorbeizufahren (sog. Vorfahren). Das Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen bleibt hingegen ausdrücklich untersagt.
Die frühere (kritisierte) Rechtsprechung des Bundesgerichts
Im Jahr 1999 qualifizierte das Bundesgericht das Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen mehr oder weniger endgültig als grobe Verkehrsregelverletzung. Es hielt dazu fest, ein solches Fahrmanöver berge eine erhebliche Verkehrsgefährdung mit hoher Unfallgefahr und wiege objektiv schwer. Linksfahrer müssten sich darauf verlassen können, nicht rechts überholt zu werden. Obgleich das Bundesgericht ausführte, es seien stets die Umstände des Einzelfalls entscheidend, gab es seither kaum je einen Entscheid, in welchem milder geurteilt wurde. Konkret bedeutete dies Folgendes:
Rechtsüberholen =
- grobe Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 2 SVG) respektive schwere Widerhandlung (Art. 16c SVG)
- Geldstrafe inklusive Strafregistereintrag
- Führerausweisentzug für mindestens drei Monate
Diese strenge Rechtsprechung wurde in der Lehre wiederholt stark kritisiert, was auch dem Gesetzgeber nicht entging.
Erlösende Gesetzesänderung?
Seit einer Gesetzesänderung vom 1. Januar 2021 gilt deshalb, dass mit der nötigen Vorsicht das Rechtsvorbeifahren an einer Kolonne selbst dann erlaubt ist, wenn sich rechts noch keine Kolonne gebildet hat. Das Rechtsüberholen bleibt hingegen weiterhin verboten. Allerdings wurde der Tatbestand des Rechtsüberholens durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen in den Ordnungsbussenkatalog aufgenommen. Das heisst, dass dieses Manöver grundsätzlich mit einer Ordnungsbusse von CHF 140.00 (innerorts) oder CHF 250.00 (Autostrassen und Autobahnen) anstatt mit einer Geldstrafe bestraft werden soll.
Mit dieser Änderung wollte der Gesetzgeber zum Ausdruck bringen, dass nicht alle Fälle von Rechtsüberholen als grobe Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG respektive als schwere Widerhandlung im Sinne von Art. 16c SVG zu qualifizieren sind und somit nicht zwingend zu einem mehrmonatigen Führerausweisentzug führen müssen.
Die «neue» Rechtsprechung des beharrlichen Bundesgerichts
Diese Auffassung teilt das Bundesgericht allerdings nicht, wie sich aus dem neuen Urteil 6B_231/2022, schliessen lässt. Im genannten Urteil nimmt das Bundesgericht zwar zur Kenntnis, dass seit dem 1. Januar 2021 die Möglichkeit besteht, ein Rechtsüberholen auch auf Autobahnen mit einer Ordnungsbusse zu ahnden. Allerdings führt es aus, es habe weiterhin eine Verurteilung wegen einer groben Verkehrsregelverletzung zu erfolgen, wenn die Voraussetzungen des Art. 90 Abs. 2 SVG (ernstliche Gefährdung der Verkehrssicherung und schwere Missachtung einer wichtigen Verkehrsvorschrift) gegeben seien.
Aus den Ausführungen im Urteil kann abgeleitet werden, dass das Bundesgericht den Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung bei einem Rechtsüberholen auf der Autobahn nach wie vor so gut wie immer als erfüllt erachtet. Dies selbst dann, wenn die Gesamtumstände – etwa Strassenverhältnisse, Witterung, Sicht etc. – wie im vorliegenden Fall positiv beurteilt werden und auch keines der überholten Fahrzeuge die Absicht hatte, auf die rechte Fahrbahn zu wechseln.
Es wird sich anhand weiterer Urteile zeigen müssen, ob das Bundesgericht an dieser strengen Beurteilung festhält. Sollte dies der Fall sein, so dürfte der Ordnungsbussentatbestand des Rechtsüberholens auf Autobahnen jedenfalls kaum je zur Anwendung gelangen.
Merke: Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen ist und bleibt verboten. Der neuen Qualifikation als Ordnungsbussentatbestand zum Trotz ist weiterhin mit einer Geldstrafe sowie einem mehrmonatiger Führerausweisentzug zu rechnen. |
Bild: Pixabay / Mindz, Public Domain-ähnlich.
Share